27. Dezember 2011

Étape 13 Boulancourt - Paris

Heute ist es also soweit.
Die letzte Etappe.
Die finalen Kilometer.

Heute reiten wir in Paris ein - der glorreiche Epilog einer fantastischen Tour.

Ich bin bester Laune, als ich gegen 7:30 Uhr aufstehe und ins Licht durchflutete Wohnzimmer des Gästehauses stapfe.


Wir nehmen ein schnelles Frühstück mit den Villards ein - wie immer an einem Wochentag, haben unsere Gastgeber nicht besonders viel Zeit, sich mit uns zu beschäftigen. Die kleine Mademoiselle muss in die Schule, Madame zu ihrem Job und Monsieur Villard sitzt ein weiterer heißer Tag im Nacken, an dem er die reife Kornernte einbringen muss.

Wir verabschieden uns so herzlich, wie kaum bisher - und machen uns an die ersten Meter der heutigen, keine 100 Kilometer langen letzten Etappe.


Das Wetter könnte nicht besser sein: Ein makelloser Himmel, seichter Seitenwind, der die aufkommende Hitze etwas abmildert und - wie schon gestern - die fast vollkommen flache, von Goldtönen dominierte Landschaft nehmen einen eher beschaulichen Abschluss unserer Tour voraus.

Da unsere Radklamotten über Nacht draußen zum Trocken aufgehangen waren - und es bei Abfahrt noch nicht sind - beschließen wir, bei der nächsten Gelegenheit nur wenige Kilometer außerhalb von Boulancourt diese in die Sonne zum Trocknen zu hängen, ehe wir weiter fahren.


So radeln wir im wahrsten Sinne des Wortes die ersten Kilometer betont seichten Fußes durch die Ausläufer des Waldes bei Fontainebleu und finden abseits der Straße eine dichte Kräuterwiese, die zum kurzen Picknick geradezu einlädt.

An einem Zaun erblicke ich den idealen Trocknungsplatz für meine Klamotten - hier wird der Wind nur wenige Minuten brauchen, um wie ein Fön gleich die Nässe aus den Funktionsfasern zu blasen.

Allerdings schreckt mich das "Achtung! Minen!"-Schild etwas ab ...


Unsere Laune ist bestens. Flow reißt wieder Witze wie am ersten Tag und die Spannungen, die sich zwischen uns im Laufe der Tour aufgebaut hatten, scheinen wie verflogen. Wir witzeln und frotzeln herum - die Aussicht, heute dann gleich in wenigen Stunden den Eiffelturm sehen zu können und morgen schon wieder in der Heimat zu sein, nimmt den Stress der 1.500 Kilometer, die hinter uns liegen, von unseren Schultern.

"So, mein Lieber", sage ich zu ihm, als wir uns klarmachen, "Das wird die letzte Salbung sein!"
Ich reiche ihm meine Assos-Gesäßcreme, die wir in 13 Etappen fast vollkommen leer gemacht haben.


Als wir uns so Kimme und Korn geschmeidig cremen frage ich mich, wie diese Szenerie wohl auf einen Militärangehörigen wirken müsse, der hier ja jederzeit auf der anderen Seite des Zaunes auf Patrouille vorbeikommen könnte ... was ist das, was wir hier machen? Erregung öffentlichen Ärgernisses?


In weiser Voraussicht ob der Indisbutabilität genügender Verstecke im urbanen Umfeld der Metropolregion Paris creme ich mich zusätzlich gleich noch mit einer dicken Schicht Ibuprofen-Salbe ein, denn ich glaube kaum, dass ich das heute noch unterwegs würde tun können. Denn wenn sie uns schon nicht hier und jetzt am Militärgelände verhaften, muss man das ja nicht noch in Paris selbst provozieren ...

Nach einer guten halben Stunde sind wir soweit: Ich schaue die Route auf meinem Garmin an, Flow wünscht sich, dass wir eine kleine Nebenstraße entlang eines klitzekleinen Flusses nehmen, der irgendwann in die Seine mündet. So soll es denn auch sein!


Kilometer um Kilometer geht es nun auf teilweise vollkommen unbefahrenen Straßen durch überwiegend flache Landschaften. Die güldenen Kornfelder beginnen langsam, in meinen Augen zu brennen, viel zu bereden haben wir beiden auch nicht unbedingt, sodass die ersten beiden Stunden eher als langweilig zu betrachten sind.

Wirklich witzig wird es erst, als wir einen Zwischenstopp in einem kleinen Dörfchen machen.

"Ich muss mal groß", kündigt Flow den Grund an.
Er sucht und findet eine verschlafene, ruhige kleine Boulangerie, parkt sein Rennrad und verschwindet ...


... als nur 5 Minuten später zwei proppevolle Reisebusse parken und ein schier endloser Strom tagesausflügender Rentner sich in das kleine Restaurant zu zwängen beginnt. Ich muss grinsen. Richtig loslachen aber muss ich, als Flow mit hochrotem Kopf aus der Tür gestürmt kommt: "Nicht auszuhalten, dieser Ansturm!"

Ein lange "Ahhhhhh" entweicht ihm, als wir uns wieder auf einer dieser verlassenen Nebenstraßen wiederfinden.


Leider trägt die massive Sonnenstrahlung scheinbar zu einer vollkommen unnötigen Eskalation - ein glitzerndes Beispiel für Teamdynamik - bei. Es begibt sich, dass im Laufe der nächsten Stunde sich meine Wasserflaschen immer weiter leeren. Ein Blick auf die Karte meines Garmins lässt Böses erahnen: Wir kommen auch weiterhin erstmal nur durch kleine und kleinste Dörfer. Keine Chance, auf einen Supermarkt zu treffen.

"Flow, wir müssen mal Wasser auffüllen, ich hab nix mehr.", melde ich meinen Wunsch an.
"Jo, geht klar!"

Ein Dorf kommt. Kein Supermarkt. Keine Tanke. Keine Boulangerie.
Ein nächstes Dorf. Wieder nix.
Ein drittes Dorf. Ein Schild - immerhin - das auf einen Supermarché in 5 Kilometern deutet.

"Okay, lass uns da hin fahren.", bitte ich ihn. Wohlwissend, wie schnell Wassermangel zum Blackout führen kann. "Sowas wie auf der Royan-Etappe muss nicht nochmal sein.", lege ich nach. Damals, vor etwas einer Woche, waren wir bei 50 Grad in der Sonne leer gelaufen und mussten von Haus zu Haus Klinken putzen gehen, um an Leitungswasser zu kommen.
"Nee, das ist doch nicht mehr unsere Strecke!", entgegnet er und insistiert drauf, die Strecke am Bächlein weiter zu fahren.
"Aber das bringt doch nix, wenn da kein Wasser ist?!?", ich werde langsam sauer.

Flow ignoriert mich und fährt zu zwei älteren Herren, die zufällig vorbei kommen. Er fragt nach dem Weg. Sie deuten in alle möglichen Richtungen, reden wild durcheinander und auch Flow hat seine liebe Mühe, aus den beiden zahnlosen Veteranen etwas heraus zu holen.
Als er dann anfängt, von St. Pauli zu erzählen, reißt mir der Geduldsfaden: Ich fahre einfach los!

Ja, ich weiß, das war wenig erwachsen und nicht gerade diplomatisch, aber auf einen Schnack mit zwei alten Herren über Fußball, St Pauli und Hamburg hatte ich jetzt wirklich keine Lust. Vollkommen frustriert pedalliere ich in Richtung Supermarché.
Lange, lange hinter mir, nurmehr ein kleiner Punkt: Flow.

Als ich aus dem Supermarkt komme, parkt er am anderen Ende.
Er ist stinksauer, ich aber auch.
Wir würdigen uns keines Blickes. Ich fülle meine Flaschen auf, stelle ihm Wasser hin.

Fast zeitgleich fangen wir an, uns gegenseitig anzubrüllen, werfen uns alles mögliche an den Kopf. Marktbesucher drehen sich nach uns um.
Mit einiger Wut im Bauch trete ich in die Pedale: "Wir kommen schon noch wieder zu Deinem Scheiß Fluss!", brülle ich und trete rein.

Erst nach einigen Kilometern Frustvollgas entschuldigen wir uns bei einander.
Ich habe mein Wasser.
Und Flow seinen Fluss wieder.


Unsere neue Harmonie ist nicht von langer Dauer - es kündigen sich schneller als erwartet die ersten Plattenbaubezirke - Cité genannt - der Umgebung von Paris an. Heruntergekommene, bröckelnde, graue Fassaden, keine Radwege, Autochaos und herumlungernde Menschen, die uns anstarren vermitteln nicht unbedingt ein schönes Gefühl.

"Bloß schnell durch hier!" Flows Satz ist unsere Devise.

Teilweise echt mörderisch müssen wir uns im frühen Nachmittagsverkehr auf den regulären Autostraßen neben tonnenschweren Trucks und verrosteten Rußschleudern behaupten. Es ist alles andere, als leichtes Fahren. Von Genuss kann keine Rede mehr sein.


Wir finden irgendwann die Seine, an deren linken Ufer wir uns halten. Mal können wir direkt neben ihr fahren, mal müssen wir eine reichlich dicht befahrene und vor Schlaglöchern nur so wimmelnde Buckelpiste entlang huschen - und manchmal auf allzu abenteuerlichen, verrosteten Fußgängerbrücken unsere Rennräder schleppen.

"Hier allein und bei Dunkelheit ... ich würde sterben!"

Nach einigen harten und nervenaufreibenden Kilometern bessert sich die Lage: Wir können entspannt entlang der Seine fahren, haben sogar dann und wann einen Radweg zu unserer Verfügung und können es etwas entspannter angehen lassen.


Da Flow wieder mächtig aufs Pedal tritt, lasse ich ihn ziehen: Wenn er heute unbedingt wieder einen Rekord aufstellen muss, dann soll das seine Sache sein. Er kennt sich in Paris aus, war schon oft hier, ich habe mein Garmin - und wir beide wissen, wo wir uns um Falle einer Trennung treffen könnten. Also halte ich ihn nicht auf.

Immer wieder fährt er bis außer Sichtweite - und wartet dann hinter der nächsten Kurve. Nur, um wenige Minuten später wieder davon zu stürmen. Vielleicht wieder das "Ich fahre nur dicke Gänge"-Spiel, das wir schon kennen ...

Das Seine-Ufer überrascht mich immer wieder.


Mal ist es aufgeräumt, sauber, einladend: Villen, alte und neue Häuser, Fußgängerwege und Promenaden laden Spaziergänger, Anwohner und Erholungssuchende zum kurzweiligen Verweilen ein - gerade bei diesem perfekten Wetter eine Traumgegend, um hier zu wohnen.

Und dann, hinter zwei, drei Kurven, müssen wir uns wieder durch verdreckte, halb verrottete Industriegebiete kämpfen, Slalom rund um bombentrichtergroße Schlaglöcher machen und sind froh, wenn wir diesem stressigen Straßenalptraum davon fahren können.


Und dann entrinne ich nur um einen Zentimeter dem Tod.

Ich bin Flow dicht am Hinterrad, als wir einen Kreisverkehr durchfahren müssen. Von hinten beginnt ein Kolloss von Mülltransporter, uns mittem im Kreisel zu überholen. Flow kann schnell genug beschleunigen - ich muss hart bremsen, die an dieser Stelle etwa 40 bis 50 Zentimeter hohe Fahrbahnbegrenzung schleift schon am Pedal, links neben mir ist der stinkende Ladecontainer des Trucks nur wenige Millimeter neben mir - als er plötzlich nach rechts zieht. Wahrscheinlich ist auf der Spur links neben dem LKW ein anderes Fahrzeug.
Meine Rettung ist, dass wir den Halbkreis durchfahren haben, bevor der LKW mich rechts zwischen sich und der Mauer einquetschen kann - ich muss hart auf den Fußgängerweg und dann die Gegenfahrbahn ausweichen.

Mein Herz pocht mir bis zum Hals.
An der nächsten Ampel hole ich Flow wieder ein.
Und den LKW.
Ich drehe mich um - der Fahrer glotzt mich provozierend an. "Was guckst Du so?", scheint er mich anzumachen.

Genüsselich und mit aller Kraft ziehe ich all den Schleim zusammen, den ich in meiner von Staub, Smog und Schwitzen zugekleisterten Nase habe. Und rotze ihm seine Frontscheibe zu.

"Gas geben!", brülle ich Flow an, und lachend pedallieren wir unter lautstarkem Gehupe des Müllmanns davon.

Und dann, endlich: Pariss.
Das Paris, von dem ich seit 1.500 Kilometern träume.


Die Gegend wird wieder feiner. Wir können von der Straße auf einen breiten Streifen mit Bäumen, Wiesen und einer Flanniermeile wechseln. Sehr viel mehr Touristen hier, wir müssen sehr langsam fahren, viel ausweichen, vorsichtig sein. Flow ist genervt, wechseln wieder auf die Straße, gibt Stoff - ich bleibe auf dem Radweg. Warum Gas geben? Jetzt, wo es entspannter wird, jetzt, wo wir uns der Innenstadt nähern?

Und dann ... hinter einer Kurve ...


Notre Dame. Mir geht fast das Herz auf. Ich frohlocke, jauchze. Ja, das ist Paris! Das ist das Paris, das ich sehen wollte - so muss das sein!

Ich halte an. Lasse diesen Moment auf mich wirken. Es ist fantastisch. Es ist unbeschreiblich ... Flow muss merken, wie mich dieser Moment berührt. Er kennt diese Stadt in und auswendig. Ich aber, ich sehe das hier zum ersten Mal. Er kommt zu mir zurück: "Weißte was? Wir kaufen uns jetzt erstmal eine Flasche Champagner. Und die trinken wir nacher, wenn wir geduscht haben - auf unseren Sieg, okay?"

Was für eine geile Idee!



Mitten im Tourigewimmel schafft es ein netter Amerikaner nach dem zehnten Anlauf denn auch, ein Foto von uns beiden zu machen - und dann brechen wir zum nächsten Supermarché auf, wo wir uns eine schöne Flasche Veuve Clicquot genehmigen. Ich packe den Liter Sprudelwasser in meinen Rucksacke - und folge Flow durch diese brummende, faszinierende Stadt.

Nach den zähen Kilometern durch die grauen Vororte hat das hier alles eine wahrhaft euphorisierende Wirkung auf mich. Ich bin im siebenten Rennradhimmel.


Wir fahren durch die endlosen Straßenschluchten - aber anders, als noch vor wenigen Kilometern, haben wir hier keinerlei Probleme mit unseren Rennrädern. Zwar sehen wir kaum andere Radfahrer, hier scheint man aber Rücksicht auf uns zu nehmen und lässt bequem Platz, sodass ich jederzeit sicher mein Cervélo durch den dichten Verkehr steuern kann.


Mit seiner kleinen Stadtführung bringt uns Flow zum Louvre. Die gläserne Pyramide im Innenhof, die weltberühmten Fassaden - tausende von Touristen. Und wir mittendrin wie deplatziert wirkend.

Und trotzdem: Mir gefällts hier sowas von! Paris ist tausendmal schöner, als ich es mir vorgestellt hatte.


Weiter geht es durch die Straßen dieser wundervollen Stadt, die ich mir mit jedem einzelnen Meter mehr in mein Herz fahre - wie oft habe ich hier auf meinen Flügen nach New York auf dem Flughafen ein paar Stunden verbracht und nicht eine Minute daran gedacht, mir diese Stadt anzusehen?

Wie oft habe ich Frankreich als Reiseziel verworfen - und wie oft habe ich in den vergangenen zwei Wochen gesehen, dass dieses Land, diese Menschen absolut jede Reise wert sind.

Kurz vor dem Place de la Concorde entdecken wir ein Graffito, an dem Flow posieren muss: Point Fixe. Und ich poste dieses Foto hier in diesem Blog um meinen - und Flows - Dank an Fixe auszusprechen, der uns mit den Übernachtungen bei seinen Bekannten und Freunden in Grenoble, bei den Lieges mit ihrem Riesenhund und nicht zuletzt bei seinen eigenen Eltern in Boulancourt nicht nur Hotelkosten erspart, sondern uns einzigartige Einblicke in das echte, das unmittelbare französische Leben gewährt hat.

Merci bien, Fixe!


Und dann, endlich, biegen wir auf sie ein - die wohl berühmteste, prächtigste und faszinierendste Straße der Welt. Wir haben die holperigen Pflastersteine der Champs Elyseés unter unseren schmalen Rennradpneus.

Hier also wird in knapp 5 Wochen Mark Cavendish zum Etappensieg sprinten und Cadel Evans Toursieger Australiens.


Und was haben sich auf diesen wenigen hundert Metern für Tragodien, für Heldengeschichten abgespielt? Ich muss an Contador denken, an Laurent Fignons berühmte 8 Sekunden, an Lance Armstrong und natürlich an Jan Ullrich.

Und nun also fahre ich hier selbst.

Ich genieße es. Es ist meine Triumphfahrt. Meine letzte Etappe. Mein Epilog.



Endlich erreichen wir den Triumphbogen. Es fühlt sich hier alles an, wie im Traum.

"Mist!", fluche ich in mich hinein, als wir kurz anhalten wollen, um ein weiteres Siegerfoto zu machen: "Ich hatte eigentlich vor, als Überraschung, ein gelbes Trikot und ein gepunktetes Bergtrikot anfertigen zu lassen ... jetzt die Dinger überzustreifen wäre doch genau der richtige Moment, oder?", brülle ich in den Verkehr hinein.
"Und wer bekommt das Gelbe? Wer das Gepunktete?", fragt er schelmisch.

Tja, gute Frage ...


Wir stehen mitten auf dem nur zaghaft durch eine dünne blaue Linie angedeuteten Mittelstreifen, wenige Meter neben uns rauschen die Fahrzeuge vorbei, ein junger Mann lässt sich auf das Fotoabenteuer ein und fotografiert uns - einige Autofahrer hupen. Allerdings recken sie die Daumen nach oben: Sie haben unser Anliegen verstanden und freuen sich.

Tja, wer bekommt das Gelbe Trikot?

"Also, das Gelbe bekommst eindeutig Du.", brülle ich in eine erneute Grünphase der Autos: "Du bist fast immer vorn gefahren, hattest immer die Reserven und hast mich immer gezogen."
Flow nickt. "Und außer am Bonette, über den ich nicht rüber bin, habe ich jeden Berg gewonnen - also das Gepunktete für mich." Jetzt grinst er.

Na bitte!


Den Arc de Triomphe umrunden wir, ich schaue noch nach La Defense, dem verlängerten Ende der Elyseés-Achse, aber da müssen wir nicht unbedingt hin.

Dieses Gewusel und Gehupe, dieses geschäftige Treiben hier im Kreisel erinnert mich ans Verkehrschaos in Rom oder Neapel, obwohl, da gab es wenigstens noch Fahrbahnmarkierungen - hier rasen sie wild durcheinander. Chaos, das sich selbst ordnet. Faszinierend. Ob hierüber schonmal Schwarmforscher Doktorarbeiten geschrieben haben?


Wir stürzen uns als zwei neue Mitglieder in den Schwarm, manövrieren uns durch den Strudel Blechkarossen, die dem Triumphbogen, der muslimischen Kaba gleich, in konstantem, ewigen Kreisen huldigen, biegen an einer der Straßen ab und weniger Minuten später stehen wir unter ihm - dem nächsten Ziel dieser Stadtrundfahrt.

Na klar - der Eiffelturm!


Ich hätte ihn mir nicht so rostbraun vorgestellt.
Aber dafür ist er wesentlich größer, als ich gedacht hatte.

Wow, das ist ein Wahnsinnsteil! Das finden auch die etwa 3 Millionen anderen Besucher ...


Es dauert mehrere Minuten warten, bis wir ein Stück am Fotozaun für uns haben und wiederum mehrere Anläufe, endlich einen Touristen zu finden, der sich die Zeit nimmt, uns zu fotografieren.

"Wenn ich nur einen Cent bekommen würde für jedes Foto, das hier heute gemacht wurde ...", sagt Flow. Wir könnten uns in einer Limousine nach Hamburg fahren lassen.

Á porpos Hamburg: Da müssen wir morgen wieder hin. Unser Flug geht pünktlich 6 Uhr morgens und wir besrpechen unser weiteres Vorgehen: "Also, ich wäre dafür, dass wir einfach schön gemütlich heute Abend, oder meinetwegen heute Nacht dahin fahren, die paar Stunden dort warten und dann fliegen - ein Hotel lohnt sich doch nicht.", meint Flow.

Ich timme ihm zu.

"Okay, dann mal los zum Goethe-Institut ..."



Wir müssen nicht lange fahren und finden in einer vom Triumphbogen abzweigenden Seitenstraße das große, recht moderne Gebäude des Goethe-Instituts. Hier war es wieder Fixe, der uns den Kontakt zu einer Freundin hergestellt hat, die hier arbeitet.

Wir parken unsere Rannräder, als sie - im schicken Cocktailkleid - zu uns geeilt bekommt, Flow umarmt und mich begrüßt, uns einen schönen Aufenthalt wünscht und mit den Worten: "... ich muss schnell zu einer Hochzeit ..." Hals über Kopf das Foyer verlässt.

Noch ist Zeit für ein Foto, dann bricht sie auf.


Im Ausstellungsraum des Foyers - eine Holocaust-Bildershow - dürfen wir uns ausbreiten. Etwas deplatziert und entweihend komme ich mir vor, als ich beginne, umrandet von Bildern unfassbaren Schreckens mein Cervélo zu demontieren und in den Koffer zu verpacken, den wir vor 2 Wochen aus Nizza hierher geschickt hatten.

Flow übernimmt die erste Schicht auf Toilette - leider stehen keine Duschen, dafür aber ein geräumiges Behinderten-WC zur Reinigung zur Verfügung.

Eine Stunde später ist alles sicher verstaut.


"So. Und nun zum Champus!", beschließen wir, als wir unsere Klamotten umgezogen, uns gewaschen und die Rennräder verstaut haben. Der Security-Mann sagt, dass er pünktlich 23 Uhr das Gebäude abschließen würde - und da morgen Sonntag sei, es auch keine Möglichkeit gäbe, morgen früh die Räder zu holen.

"D´accord", beruhigen wir ihn und machen uns zu Fuß auf den Weg. Auf den Monmatre wollen wir und uns im Schatten der Kirche Sacre Coeur das Sprudelwasser genehmigen - unsere kleine Siegesfeier.

Unterwegs essen wir eine Pizza, schlendert durch die Champs Elyseés und erklimmen schließlich den Berg. Langsam schickt sich die Sonne an, unterzugehen, als wir die Stufen unter der Kirche erreichen.


Massen an Touristen sind hier oben - nicht zuletzt auch deshalb, weil hier eine riesige Rampe für Skater aufgebaut wurde, die sich waghalsig den Berg hinunterstürzen können.

Wir finden eine leere Bank - inmitten Betrunkender amerikanischer Schülerinnen und etwas dubios wirkenden, anscheinend illegal Bier (und was sonst noch) verkaufenden Gestalten im Gangsta-Rap-Look.

Flow öffnet die Flasche - PLÖPP! - tönt es über den Hügel. Alle schauen uns an. Eine weiße Schaumfontaine bespritzt zei der Bier-Dealer vor uns, die sich sogleich stirnrunzelnd umdrehen. "Oho ...", mache ich noch, aber Flow prostet ihnen lächelnd zu. Sie mustern uns: Zwei Männer in kurzen Hosen. Rasierte Beine. Trinken Veuve Cilquot. Nein, Mädchen schlagen sie wohl nicht ... sie rufen "Santé" und damit hat es sich.


Die Aussicht ist der Hammer! Zwar sind wir auf der den Eiffenturm abgewandten Seite, aber dafür präsentiert sich die Stadt hier nicht weniger spektakulär.

Wir sitzen da und schnacken. Rekapitulieren noch einmal die vergangenen Tage. 1.500 Kilometer. 13 Etappen. 2 Gebirge. Das Haute Medoc. So viele Städte, so viele Menschen, so viele tolle Begebenheiten: L´Alpe d´Huez bezwingen, am Col de la Bonette beinahe erfrieren, das Fliegenhotel, in alter Crosser-Manier mit dem Rennrad auf dem Rücken die steilen Hänge der Burg in Grenoble ersteigen, der fantastische Ritt auf den Mont Ventoux, die unendlich schönen Rebfelder in Chateauneuf du Pape, herrlich - das Schneckenessen im Chateau Barbé bevor es in die Pyrenäen ging, der Ritt über 3 der schwersten und legendärsten Pässe der Tour de France, unvergessliche Augenblick an den 1.000 Meter tiefen Steilhängen des Col d´Aubisque, das Treffen mit Jaques Suire, die Quälerei bei 41 Grad im Schatten im Medoc, wahnwitzig, mit 40 km/h auf der Autobahn und nicht zuletzt der Angriff des Riesenhundes Elliott nahe Chambord ... und so viel mehr!

"Ah, la Tour de France!", schreit ein arg Betrunkener in unsere Richtung. Ein Clochard, wie er im Buche steht, wankt auf uns zu und zupft an meinem Cevélo Trikot: "La Tour! La Tour!", ruft er und freut sich.


"Siehste", muss Flow lachen: "Da interessiert sich kein Schwanz in 2 Wochen für die Tour de France - außer dieser obdachlose Betrunkene in Paris am letzten Tag ... Wahnsinn!"

Wir spendieren ihm noch ein Bier und posen - selbst schon ziemlich angetrunken - mit ihm im letzten Sonnenlicht.

"Fuck!", merkt Flow plötzlich, als er auf seine Uhr sieht: "Es ist 20 nach zehn!"
Oha, höchste Zeit! Hastig packen wir unsere Sachen und sprinten los. Ist das schaffbar? Durch halb Paris in 40 Minuten?

Flow springt über die Fahrkartenkontrollschranke, stemmt die sich schließende Tür der Sacre Coeur-Seilbahn auf und wir jumpen rein. Unten angekommen nehmen wir unsere Beine in die Hände und rennen los.

"Scheiße!", rufe ich immer wieder. "Scheiße! 1.500 Kilometer Rennrad fahren und am letzten Tag noch nen Halbmarathon laufen? Verdammt!" Die Sonne geht unter. Die Zeit läuft uns davon.


Am Place de la Concorde streiken meine Beine. "Ich kann nicht mehr! Lass uns ein Taxi nehmen!" Die ganzen Champs Elyseés runter zu rennen - never!

"Da, ein Taxistand!", rufe ich, wie in einem alten San Francisco-Gaunerfilm springen wir ins Taxi, Flow ruft dem Fahrer atemlos zu: "Zum Goethe-Institut ... so schnell Sie können!"
"Oui, d´accord.", meint er und tritt aufs Gaspedal.

Sssssrrrrrrr ... schnurrt es los. Das Elektrotaxi.

Entgeistert blicken wir uns an. Ich weiß nicht, ob ich heulen oder lachen soll.

"Sehen Sie," sagt unser E-Fahrer und deutet aus dem Fenster: "Die Gedenkstatue für Lady Di."
Aha. TRITT DRAUF!!!

Schließlich erreichen wir die Kreuzung, ich bezahle ihn schnell, wir jumpen aus dem Prius und rennen zum Institut. Der Securitymann schaut auf die Uhr und uns böse an: "10 Minutes after eleven, man!", stöhnt er.
Wir können uns nur entschuldigen.


Als wir unsere Rennräder ins nächste Taxi hieven, haben wir noch 7 Stunden Wartezeit am Flughafen vor uns. Zäh und unangenehm langsam verrinnt die Zeit. Ich nutze sie, um mich zurück zu erinnern, an all die großen und all die kleinen Augenblicke in diesem wundervollen Land.


La petite Boucle - unsere kleine Schleife, sie endet heute. 1.500 Kilometer. 17.000 Höhenmeter. Etliche Pässe, Legende und Ruhm der Tour de France in Massen eingesogen. So viele, unterschiedliche Landschaften genossen.

Und vorallem - ein Volk kennengelernt, das entgegen so mancher Vorurteile so freundlich, so nett und aufgeschlossen, fast peinlich gastfreundschaftlich und herzlich ist, dass uns nur bleibt zu sagen: Merci France, es war ein wundervoller Trip!