26. Mai 2011

Étape 2 Jausiers-Le Bourg d´Oisans

"Die Nacht ging so", sage ich zu Flow, als der mich am nächsten Morgen fragt, wie es so war.
Wir sind sehr ffrüh aufgestanden, denn obschon wir - Flow noch mehr als ich, denke ich - heute ein langes Ausschlafen verdient hätten, sitzen wir kurz vor Acht Uhr schon unten.

Die Tour hat erst begonnen. Das Desaster am Bonette gestern war erst der Anfang.


Spontan taufen wir das Sans Soucci, in dem wir abgestiegen sind, in "Fliegenhotel" um: Gestern beim Abendessen erlitt eine Fliege, die über uns am Kronleuchter balancierte, vor meinen Augen einen Herzinfarkt, fiel vom Messing und landete direkt in Flows Vorsuppe.

Heute Morgen begrüßt ihn ein weiteres Mitglied dieser lästigen Art - ebenfalls tot - auf der Kaffeetasse. Wahrscheinlich Selbstmord, nachdem der Herr Fliegenmann keinen Sinn mehr ohne seine gestern verstorbene Fliegenfrau im Leben sah.

Wir lachen. Aber bei einem Blick nach draußen bleibt es uns im Halse stecken: Regen.


Der Col de la Bonette gestern war nur ein Vorspiel. Eine Overtüre. Ein bescheidener Anfang. Die ganze Tour ist gespickt - zumindest am Anfang - mit den großen Namen der Tour de France.
Da wartet noch ein Tourmalet. Da will noch ein Mont Ventoux bezwungen werden. Alpe d´Huez gibt es dann morgen. Und heute?

Flow holt die Etappenliste raus.
Wir hören kurz auf zu kauen.
Heute? Joa. Heute ist Königsetappe.

3 Cols.


Etwas schweigend essen wir weiter, vielleicht mehr, als wir sollten: Nach der Erfahrung gestern lange auch ich noch einmal kräftig zu, obwohl ich nicht der weltbeste Frühstücker bin.

Während Flow nach dem Frühstück noch einmal eine Viertelstunde "chillen" muss (oder meint er "in Ruhe kacken gehen"?), stehe ich bereits draußen. Es nieselt.

Von den Bergen her zieht es in dicken grauen Paketen drohend tief hängende Wolken ins Tal. Die Straße ist nass. Es ist empfindlich kalt. Das wird heute kein Zuckerschlecken! Im Gegenteil.



"Wenn wir heute überleben, ist alles Bon!", sagt Flow.

Und Recht hat er: Auf dem Weg nach Le Bourg d´Oisans, dem Radsportmekka der Seealpen, haben wir heute drei wahre Ungeheuer zu bekämpfen, und ich wage mich kaum, das Streckenprofil anzusehen.

Da ist zunächst der Col de Vars. Gleich nach der Abfahrt geht es dann weiter. In den "Killer" - den Izoard. Und weil das noch nicht genug war, haben wir uns noch den Col du Lautaret in den Weg geplant.

Und das alles auf 160 Kilometern.
Wahnsinn!


Ich weiß nicht so recht, wie wir das schaffen wollen. Auch können mich kaum die liebevollen Tour-Devotionalien, die sie hier in Jausiers in Form riesiger Maillot Jaunes an eine Hauswand gepinnt haben, nicht wirklich motivieren.

Ich rechne im Kopf: Gestern für den Aufstieg auf den Bonette rund 2 Stunden gebraucht. Macht also heute für 3 Berge 6 Stunden. Dazu noch leicht ansteigende Anfahrten, Transferstrecken zwischen den Bergen, sagen wir mal eine Stunde pro Berg, macht 9 Stunden. Zwei Stunden Pause, ist sehr wenig kalkuliert, aber wenn die Lokomotive wieder anzieht, realistisch, macht 11 Stunden.

Ähm, 11 Stunden bei Dauerregen?
11 Stunden bei 5.000 Höhenmetern?
11 Stunden bei 160 Kilometern?

"Das schaffen wir nicht!", sage ich zu Flow.
Er stimmt mir zu.


Bei einem Fahrradshop können wir uns eine Standpumpe ausleihen und noch einmal kurz die Reifen aufpumpen.

"Also, pass auf," schlage ich vor: "Wir fahren jetzt erstmal den Col de Vars. Dann schauen wir, wie wir drauf sind, schauen, wie das Wetter ist, okay?"
"Ja, das machen wir - und wenns Kacke ist, umfahren wir den Izoard bei Guillestre und fahren im Flachen bis Briancon."

Das wird zwar nicht schön sein - vor allem, da der Izoard einer DER Berge der Tour ist - aber wir haben noch so viele Berge und große Namen vor uns, dass es bescheuert wäre, eine Erkältung gleich am Anfang zu riskieren oder, schlimmer noch, sich kaputt zu fahren.

Obwohl, der Izoard ...


Flow posiert noch einmal in stolzer Siegerhaltung am Schild, das zum Bonette weist. Jaja, Du bist schon ein Held, Digger, denke ich, als ich das Foto mache. Und es nagt an mir: Warum nur konnte ich den Berg nicht komplett fahren? Warum nur habe ich mich die blöden letzten 5 Kilometer nicht auch noch durchgebissen?

Ich kenne die Antwort und lege mir fein säuberlich die Argumente immer wieder im Kopf zurecht. Dieses miese Gefühl werde ich aber nicht los. Ähnlich wie damals, als ich beim Zeitfahren Hamburg-Berlin aufgeben musste - die Fakten sind logisch und nüchtern betrachtet tragen sie die Entscheidung. Aber auf einer subtileren, emotionalen Ebene bleibt nur das sehr unschöne Gefühl des Scheiterns. Und das tut hier, auf meiner Traumtour, sehr weh.
Umso härter, als dass Flow es ja durchgezogen hat ...

Aber als ich mir dann durch die Gischt des aufspritzenden Regenwassers, durch das wir wenig später fahren, seine dicken Waden ansehe, bin ich wieder etwas beruhigt: Flows Körper bringt einfach ganz andere, stärkere und robustere Vorraussetzungen mit, als mein 62-Kilo-Drahtgestell. Und für einen, der 0% Fettanteil hat, habe ich mich doch ganz prima geschlagen, rede ich mir ein.

Und heute ...?


Wir fahren entlang der Durance, die wildes, türkises Wasser führt, nach Norden.
Es ist empfindlich kühl und der Regen fällt stärker, aber wir haben aus dem Kälte-Wasser-Desaster von gestern gelernt.

Ich trage unter meiner kurzen Kombination das wärmende Unterhemd von Craft. Meine Beine und Arme sowie das Gesicht habe ich dick mit einer dämmenden Schicht aus Vaseline eingeschmiert: Diese Fettschicht wird die Nässe abperlen lassen und die Kälte abhalten. Als letzte Bastion sozusagen.

Über der kurzen Kombi trage ich mein Langarm-Trikot (leicht gefüttert) und eine lange, dicke Laufhose, die mich schon beim Halbmarathon 2009 bei -2 Grad ausreichend gewärmt hat. Doppeltes Paar Socken (wird bei dem Regen allerdings nix bringen) und meine Vaude-Regenjacke (die auch nichts bringt) runden alles ab.

Etwas traurig bin ich, keine Mütze und keine langen Handschuhe zu haben - aber da muss ich nun durch.

Flow hat es da etwas schlechter: Er hat gar keine langen Hosen mit und trägt deshalb lange Fußballsocken bis unter den Oberschenkel gezogen und einige Fußballshirts unter der Regenkobi. Wenigstens hat er eine Mütze ...


Die Straße ist sehr einsam. Kaum Autos, wir haben sie für uns. Sicher noch zu früh - sicher ist auch das Wetter entsprechend abstoßend. Kaum verlassen wir Jausiers, wird der Regen stärker. Es dauert nun keine 10 Minuten, da sind wir wieder komplett durchnässt - allerdings fühle ich mich wärmer als gestern. Zudem scheint mein Vaseline-Schutzschild irgendwie zu funktionieren.

Wir sprechen kaum - wahrscheinlich die gespannte Erwartung angesichts dieser 3-Cols-Etappe. Denn der erste Pass, Col de Vars, wird schon ausgeschildert.

Herrlich diese Landschaft - eigentlich. Ich reiße mich zusammen und zwinge mich, meine miese Laune und den Ärger über das graue, kalte Mistwetter zu verdrängen. Hey, das hier ist Urlaub! Und wir sind in einem der schönsten Naturschutzreservate Frankreichs! Augen auf!


Ein weites, grünes Tal durchfahren wir. Es duftet herrlich frisch nach Wiese, nach Harz.
Vögel zwitschern durch die Kälte und ab und zu fliegt ein kleiner Adler oder Habicht durch den Morgennebel auf der Suche nach einer Maus.

Steinchen knirschen unter unseren Rennrädern - sonst nur Stille und das Pladdern der Regentropfen auf unseren Helmen.

Als es in die Steigung geht, kommen uns drei, vier Marathonläufer (in kurz!) vom Pass her entgegen. Hinter ihnen Betreuerfahrzeuge, die Läufer haben Staffelstäbe in der Hand. Ich bin so perplex, dass ich meine Cam zu spät heraus ziehe und nur noch "Bon Courage!" rufen kann.

Hut ab! Auf so einen Col zu joggen ... musste auch erstmal bringen!

Der Gradient steigt, anders als beim Bonette gestern, schon unten sehr stark an. Flow fällt sofort zurück. Ich kurbele diesmal sehr viel ruhiger und suche meinen Rhythmus. Viel mehr im Sitzen, dafür von Anfang an im kleinsten Gang.

Flow ruft von hinten:" Was - schon auf dem größten Ritzel?!?"
Ich kenne das. In der Szene ist Runterschalten am Berg verpönt. Zudem gibt es den Irrglauben, dass man sich das größte Ritzel (in meinem Fall ein 27er) immer "für später wenns richtig hart wird" aufheben sollte.

Das ist kompletter Blödsinn!


Am Berg sollte man in hohen Kadenzen so fahren, wie man am besten klar kommt. Und wer ein 27er hat, der sollte es auch benützen. Wem der zweite Gang reicht, der nimmt halt den Zweiten. "Aufbehalten" kann man sich eh nix - man sollte seine Muskeln und den gesamten Apparat so gut wie möglich schonen, so intelligent wie möglich einsetzen. Und sich nicht aus falscher Scham oder irgend einem Dünkel das Leben schwerer machen, als es sein muss.


Je höher wir steigen, desto kälter wird es wieder. Man kann es fast bei jeder Umdrehung spüren: Anfangs hatte mein Atem noch für warmes Kondensat auf meinen Brillengläsern gesorgt, nun hingegen zittere ich rasselnd die Abluft nach draußen - kondensieren tut hier dann aber nix mehr.

Und trotzdem: Ich scheine besser vorbereitet zu sein auf dieses Mistwetter. Vielleicht falle ich auch nur auf meine eigene Motivationsfalle herein, aber es hat wirklich den Anschein, als würde ich das hier heute besser ertragen: Die lange Laufhause - zwar durchnässt und feucht - hält mich tatsächlich wärmer; die zentimeterdicke Dämmschicht Vaseline sorgt tatsächlich dafür, dass das kalte Wasser nicht bis zu meiner Haut vordringt; das Craft-Unterhemd hält meinen Bauchbereich warm; und der Fakt, dass Bonette-Held Flow wieder ein, zweihundert Meter hinter mir kurbelt, gibt mir Auftrieb.


Der Aufstieg zum Col de Vars hingegen ist ein Naturerlebnis der ganz besonderen Art. Wie gestern starten wir im Tal in einem kleinen Dorf - nur anders als gestern besteht das Startdorf heute nur aus drei, vier einsamen Häuschen.

Wie gestern, schraubt sich stetig steigend eine schmale Straße durch Waldwuchs und Almen - nur anders als am Bonette, ist das Sträßchen heute noch schmaler, noch kleiner und die Wälder dichter, verlassener.

Wie gestern, können wir, je höher wie kommen, einen grandiosen Blick nach hinten - und unten - werfen - nur anders als gestern trübt weniger Nebel und vor allem weniger starker Regen das Tretvergnügen.

Ich fühle mich prächtig!

Je nachdem, auf welcher Seite des Berges wir fahren, schwillt der Regen mal an - und mal ab. Fahren wir auf der Wetter abgewandten Seite, ist es fast windstill und außer ein wenig Sprühnebel auf meiner Brille spüre ich fast nichts vom Nass.
Kommen wir um die Ecke in die Wetterseite, pladdert es umso heftiger auf uns herein, dann beginnt wieder das Stakkato der Regentropfen auf Helm und Jacke.

Heute lasse ich mich nicht von falschem Ehrgeiz packen und kurbele ohne Hast und Eile. Im Gegenteil, ich bleibe so viel wie möglich sitzen und trete ruhig im kleinsten Gang. Verspüre ich dann mal die Lust, andere Muskelgruppen aktivieren zu wollen, schalte ich einen Gang hoch und gehe in den Wiegetritt.

Auch diesen führe ich langsam aus: Es ist die Schwerkraft, die mich auf dem Pedal stehend nach unten zieht und damit für Vortrieb sorgt. Ich selbst kippe nur - recht heftig, wie ich später feststelle - das Rad von einer Seite auf die andere und versuche mich wieselflink windend unter möglichst geringem Krafteinsatz wieder nach oben auf das entsprechende Pedal zu bekommen.


Das ziehe ich dann ein, zwei Minuten durch, ehe ich beim Hinsetzen wieder einen Gang herunter schalte. So kann ich die Arbeit auf viele Muskeln verteilen und mich zwischendurch erholen. Einen Vorteil hat diese Art zu klettern natürlich auch: Man klettert schneller.

Ein Blick nach hinten - Flow ist verschwunden.

Wir haben die Absprache, dass am Berg jeder sein eigenes Tempo fahren kann und soll - oben wird allerdings gewartet.

Der Regen wird mal wieder stärker, und so setze ich mich hin. Auch beim Fahren im Sitzen habe ich eine neue Technik für mich entdeckt. So trete ich zwar im kleinsten Gang, versuche aber, die Power nicht über den Hebel Schenkel-Wade auf das Pedal zu bekommen, sondern hänge mich zunächst ganz dicht über den Lenker, nach vorne gebeugt sind meine Arme fast so stark angewinkelt, dass Arm und Oberarm auf einander liegen. Dann "hänge" ich meine Hacke ins Pedal und ziehe es über die Hacke nach unten.

Eigenwillig, aber kräfteschonend: Fast spürbar erholsam kann ich mich, sehr langsam zwar aber immerhin, die Steigung empor schrauben. Ab 9% macht diese "Hängetechnik" Sinn.


Immer höher komme ich und wenn dann und wann der Nebel aufreißt sauge ich diesen Ausblick in die grüne weite Ferne förmlich in mir auf. Höhenrausch: Ich juchze und schreie mein Rennradglück ins Tal.

Es sieht so fantastisch hier aus, dass ich wünschte, ein Kamerateam wäre bei mir. Dann würde ich ... ja, dann würde ich ... ähm ... stelle ich mir so vor: Eine tolle, treibende Musik, vielleicht "Behind the Wheel" von Depeche Mode ... Aufnahme in Straßenhöhe, Fischaugenobjektiv, die Kamera filmt schräg nach oben ... mich gegen den Himmel ... nur die schroffen Felsen drohend in der Unschärfe ... Schnitt auf mein Gesicht ... Helm tief über die Augen gezogen, der Mund steht offen, die Lunge presst den verbrauchten Sauerstoff heraus ... Zeitlupe ... der Beat. Mein Tritt. Stelle ich mir so vor.

Und wieder eine Kehre geschafft.


Wir kommen durch ein kleines Dorf, das nur aus 7, 8 Häusern besteht. Kein Mensch da. Kein Auto parkt. Nicht einmal ein Wachhund, der uns anbellen würde. Ich halte an um zu pinkeln. Flow kommt schwerfällig um die Kurve. Nur wenig entfernt - und doch so tief unten.

Der Regen ist wieder intensiver geworden. Wie kalt mag es sein? 11 Grad? 13 Grad?
Ein Lobgesang auf die Vaseline - sie dämmt. Meine energetische Sanierung.
Oder rede ich mir das nur ein?


Flow fährt an mir vorbei, als ich am Abschütteln bin.
Ganz klein der Piephahn hier oben. Ich muss fünf mal, nein, zehnmal nachdrücken, ehe der letzte Tropfen raus ist. Komisch, fällt mir auf, hier ist der Urin so gelb, dass ich mir eigentlich Sorgen machen müsste.

Trinke ich zu wenig? Kann eigentlich nicht sein. Vermutlich eine Alarmreaktion meines Körpers. Oder, nach Flows Theorie, er hat das ganze Wasser schon ausgeschwitzt - für den Urin bleibt nur der Bodensatz.

Bodensatz.
Hodensatz.


Steiler wird es im Regen auch. Die Rampen, die wir nun fahren müssen, sind fast alle über 9% im Mittel - und sicher stellenweise weit darüber hinaus.

Wie gewöhnlich tritt Flow einen höheren Gang. Wenn ich zwei Umdrehungen durch habe, ist er mit der ersten erst fertig. Das geht nun schon fast eine Stunde so: Permanentes Berganfahren. Und doch, etwas ist anders.

Ist es, weil nach dem Bonette gestern auf fast 3.000 Metern Höhe, bei Klirrekälte und Schneeregen dieser heutige, sagen wir mal, feuchte Tag auf nicht mal 2.200 Metern nicht mal annähernd so schlimm sein kann?
Ist es, weil mir die 3 Lagen Klamotten die Sicherheit - auch psychisch - geben, die ich gestern nicht hatte?

Ich weiß es nicht - ich weiß nur, dass ich mich prächtig fühle heute.


"Prächtig" ist das richtige Wort. Ich könnte auch sagen, dass ich beinahe euphorisch bin, als sich plötzlich weit oben - und doch gar nicht so weit entfernt - die Wolkendecke aufreißt und wir plötzlich den Pass sehen können.

"Yeehaw!", jubele ich neben Flow herfahrend. Und auch er grinst, wahrscheinlich durch die dünne Höhenluft unterstützt, wie ein grenzdebiler Verrückter, Glitzern in den Augen - der Pass!

Der erste Alpenpass unserer Tour de France.
Der erste, den ich schaffe!


Ich bin mir nun so sicher, dass es keinerlei Zweifel an meinem Erfolg mehr gibt. Ich lasse ihn nicht zu. Wieviel Kilometer mögen das noch sein? 3? 4? Vielleicht 5?

Mir egal - gleich, wie weit es noch sein mag, ich schaffe den Vars heute. Ich schaffe ihn, ich rocke ihn. Dem Regen zum Trotz. Vielleicht trotz des Regens.

Unter mir jubeln meine Siegesschreie noch lange als Echo. Bis ganz nach unten. Bis ins Tal. Ins weite, so entfernte Tal. Dort unten, wo wir vor mehr als einer Stunde im Regen aufgebrochen waren, auf meinen Schultern die deprimierend schwere Last des gestrigen Scheiterns: Heute werde ich sie abwerfen!


Wir mögen fertig aussehen. Aber wir sind es nicht.

Stolz wabert in unserer Brust.
Heißes Blut in den Waden.
Wach blicken die Augen durch verregnete Brillen.

Heute, der zweite Tag. Die zweite Etappe. Drei Berge vor uns. Und der erste, Col de Vars?
Das wars!


Wenn ich ins Tal blicke, klart es schon fast auf. Es scheint, als habe sich das Wetter verbessert - vielleicht, weil wir die Prüfung heute bestehen. Weil weder Regen noch Kälte uns abhalten können. Gott der Alpen, Wächter der Cols, wir haben dich bezwungen, du kannst uns nicht aufhalten.

Ich sehe die Serpentinen. Da ganz tief unten. Ich stehe vor einer Fotoleinwand. Ferne Wildnis, gezähmt nur durch eine einfache, einsame Straße. Panorama der Kraft. Da unten. Da unten war ich gerade. Da unten. Da habe ich mein Col-lege-Abschluss gemacht.

Nun, noch nicht ganz.
Aber gleich.


Es ist die letzte Rampe. Ich kann es sehen. Denn über mir, da oben, da hinten, vielleicht noch 1.200 Meter entfernt. Da oben, da knickt die Straße ab. Da ist der Pass. Da geht es hinüber - da hinten, da ist wieder das "runter". Die andere Welt. Das "danach".

Da oben, dort, wo ich in einigen Minuten sein werde, da werde ich meinen ersten Alpenpass überwunden haben.

Ich passiere eine kleine Kapelle. Schutzhütte für Erfrierende. Rastplatz für Bibbernde. Zeichen? Wie das Kruzifix gestern bei Jausiers? Ich weiß es nicht. Flow hat sich vorhin hier sicher bekreuzigt - das tut er immer, wenn er ein Kreuz sieht oder die Heilige Mutter.
Für mich wäre es unangemessen, auch wenn ich gerade sonderbar berührt bin.


Der Endspurt beginnt. Einhunter Meter unter dem Gipfel beschleunigt Flow. Jauchzend wuchtet er sich den Gipfel entgegen. Seine Art, sich den Berg Untertan zu machen.

Ich behalte meinen ruhigen Tritt bei. Vielleicht, weil ich weiß, dass, auch wenn der Sieg hier am Col de Vars noch so süß ist, dieser nur der erste, kleinste Berg der drei ist, die heute auf dem Programm stehen.

Und da klingen ganz andere Namen: Lautaret.
Und: Izoard.


Flow sprintet durch die Dunkelheit einer kleinen Hütte entgegen. Zum Schluss wird es nochmal ganz steil. Es reißt die Decke auf. Sehe ich da Sonne? Wärmende Strahlen?

Die letzten Meter genieße ich.
Ich suhle mich in meiner Leistung.
Ich grinse.

Als ich das Schild passiere.


Wir lehnen die Räder ab.
Es knallt in die Stille des Gipfels, als wir schmatzend einschlagen, unsere nassen Radhanschuhe prallen aufeinander: Gut gemacht! Drüber!

Eins von drei.
Sieg.


Stolz wie Oskar mache ich ein Foto. Etwas steif stehen wir da. Vielleicht erst jetzt, als dass wir hier in der Einöde des Geröllhaufens, den sie Col de Vars nennen, uns nicht mehr bewegen, keine Wärme mehr produzieren, fällt mir auf, wie kalt es hier ist.

Zitternd bibbern wir uns zu der nahe stehenden Hütte - ein kleines Café, es hat offen, einige Rennräder stehen davor. Als wir uns nähern, platzen eine Handvoll Holländer heraus, wir grüßen uns, sie schieben ihre Räder zum Gipfel - auch eine Idee: Zielfoto erst nach dem Aufwärmen machen!


Eine echte Col-Hütte also. Genau das Richtige jetzt! Heißen Kaffee. Belegte Brötchen. Am liebsten ein Kamin. Oder auch gern Heizungen. Viele, große, heiße Heizungen.

Wünsche ich mir jetzt, als ich mein Cervélo an die Holzwand stelle, das Garmin deaktiviere und mich umständlich ächzend aus dem Rucksack pelle. Steif gefroren, langsam bibbernd stolpern wir der Eingangstüren entgegen.


Drinnen begrüßen sie uns freundlich: Zwei dicke Matronen in Schürzen, Schweißperlen auf der Stirn, die eine zwitschert hinter einer schmalen Durchreiche aus einer kleinen Küche.

Leider ist es eher kalt in dem Raum - dafür aber trocken.

Flow und ich bestellen einen heißen Tee und beginnen, uns Jacke und Trikot auszuziehen. Ich hänge alles über drei Stühle. Neben uns hat sich schon eine junge Dame halb entkleidet. In funktionaler Unterwäsche sitzen wir einige Minuten später da, die andere Matrone zündet den Ofen an, ich lege meine Socken - "Sie dampfen!" - auf die sich langsam erhitzenden Steine, dann strecken wir unsere Füße aus und versuchen, uns die beißende Kälte aus den Gliedern zu pressen.

Es gelingt nur zaghaft.


Das Mädel ist Französin. Sie kam von der anderen Seite den Berg hoch. Sie sagt, dass sie die Kälte unterschätzt hatte und sich nun vor der Abfahrt fürchtet.

Mir kommen die Geschichten der Tour de France in den Sinn. Wie sie sich Zeitung unters Trikot stopfen, wie Finger an den Bremshebeln fest frieren. Ich kann ihre Befürchtungen verstehen.

Sie hat per Handy ihre Freunde angerufen, wird in einer halben Stunde mit Auto abgeholt. Wir nicken verständnisvoll. Aber neidisch sind wir nicht. Abgeholt werden? Nee, um nichts in der Welt - egal, wie kalt es auch sein mag, die Abfahrt will ich mir um nichts in der Welt entgehen lassen!


Aber zu erst bestelle ich mir noch eine zweite Kanne Tee. Er wärmt von innen, herrlich! Wenn auch in dieser Hütte weder eine Heizung läuft, die Küche keinen einzigen Grad zur Erwärmung beiträgt und auch die Wirkung des Kamins scheint nur auf den Umkreis weniger Zentimeter rund um die Feuerstelle beschränkt zu sein.

Umso mehr genieße ich das Gefühl, wenn der aromatische, heiße Kräutersud zunächst meine Speiseröhre hinabläuft und dann den gesamten Bauch wärmt. Man könnte süchtig danach werden.


Wir suchen uns noch einige Postkarten aus, Flow schreibt auch gleich zwei unter dem frischen Eindruck des geglücktes Aufstieges und ich strecke meine Füße ganz nah ans Feuer. Sie dampfen noch immer.

Eine Illusion allerdings, dass in diesen kurzen 20 Minuten durchnässte Trikots wieder durchtrocknen, triefnasse Jacken wieder tragbar werden und die ansetzenden Schimmelkolonien in den Radschuhen die Fluch antreten.

Es ist mehr als unangenehm, wieder in die Klamotten zu steigen.
Die Abfahrt wartet auf uns.



Der Wettergott des Col de Vars ist gnädig: Es hat aufgeklart und der Regen stoppt. Als ich mich in die Abfahrt begebe, bin ich zunächst sehr vorsichtig. Ich lasse nur selten komplett rollen - zu groß ist mein Respekt vor der Geschwindigkeit, vor nasser Fahrbahn und vor den sehr starken Winden, die hier an den Hängen wüten.

Flow fährt vor - er bezeichnet sich selbst als "Abfahrtschisser", umso mehr wundert es mich, dass er wie ein Vollprofi die Rampen hinabstürmt. Soll er, viel Spaß! Das gibt mir die Ruhe, ab und zu anzuhalten, um ein schönes Foto zu machen.


Es ist empfindlich kalt - der Fahrtwind dringt, begünstigt durch meine durchnässten Klamotten, sofort durch den Stoff. Zwar habe ich mir aus dem Hotel ein kleines Handtuch mitgenommen, dass ich mir zwischen Trikot und Jacke gestopft habe, aber da das Frottee selbst durchnässt ist, kann es das kalte Ziehen nur sehr bedingt aufhalten.

Fast fühlt es sich an, als speichere es die Kälte nur.
Ich beiße die Zähne zusammen und zittere mich von Serpentine zu Serpentine.


Es geht Kilometer um Kilometer rasant hinab. Mehr und mehr lasse nun auch ich laufen. Faszinierend, wie stark diese Erdanziehung doch wirkt: Kaum lasse ich die Bremsen los, beschleunigt mein Rennrad von 0 auf 50 in nur wenigen Sekunden.

Bei 65 km/h betätige ich sie dann wieder. Langsam lasse ich schleifen - hinten verzögern, vorne bremsen, lautet die Devise. Sehr vorsichtig taste ich mich heran: So etwas, was mir bei der Tour d´Energie in Göttingen passiert ist, wo mir bei 70 km/h das Heck ausgebrochen ist, möchte ich mir hier nicht erlauben. Es geht fast senkrecht bergab - Geröll und harter Stein warten auf mich.


Die Abfahrt nach Norden vom Col de Vars ist wunderschön und ruhig. Reihen sich weiter oben noch recht kurze Rampen serpentinenartig aneinander - hartes Bremsen, sehr enge Kurven und wildes manövrieren sind notwendig - weiter unten schwächt der Gradient etwas ab, die Straße schmiegt sich nun an weniger steile Hänge, immer häufiger geht es nun auch mal 1.000 Meter geradeaus.

Seicht schlängelt sich die sehr spärlich befahrene Straße durch saftige Wiesen, Flow wartet irgendwo auf mich, sammelt mich ein, gemeinsam nehmen wir die nächsten Kilometer in Angriff.


Wir haben noch beim Frühstück unsere Taktik für diese "Königsetappe" besprochen. Noch arg gezeichnet vom gestrigen Eistag am Bonette und unter dem Eindruck des Scheiterns, plädiere ich dafür, den Izoard ausfallen zu lassen. Schmerzlich, aber ich glaube, dass wir heute keinesfalls 3 Cols schaffen werden.

Flow pflichtet mir bei: Angenommen, wir bräuchten nur eineinhalb Stunden für den Aufstieg allein (und ich rechne da lieber vorsichtiger mit 2 Stunden), dann kämen schon viereinhalb Stunden Arbeit an den Anstiegen zusammen.
Und wir reden hier von drei Anstiegen der Hors Categorie. Und einer davon ist der "Killer" - der Izoard.

Siegessicher posieren wir für ein Foto auf der Mitte der Abfahrt vor einer Nebelbank. So düster, wie das Bild, sind auch meine Gedanken. Auch heute scheitern wir. Und zwar schon am Frühstückstisch.


Im Rausch der Abfahrt freilich obsiegt das Endorfin: Kippt vor mir wieder eine Rampe extrem nach unten hin ab, erlebe ich Gefühle wie in der Achterbahn. Es hebt sich der Magen, es kribbelt im Bauch. Ich schieße auf das unendlich weit entfernt scheinende Grün des gegenüber liegenden Berghangs zu, erst im letzten Moment sehe ich, dass der Aspahlt unter und vor mir weiter geht, wie im Rausch gehe ich in Untenlenkerposition, ducke mich weg unter dem Fahrtwind, der beginnt, mir in den Ohren zu knallen. Dann geht es ab, so laut, dass ich den Freilauf nicht mehr hören kann, zu schnell, um einen Blick aufs Tacho zu riskieren, Asphaltgrau und Wiesengrün mischen sich, Warpstreifen, Wahnsinn. Dann Kurve in Sicht, aufwachen, bremsen, langsam, langsam, Kurvenmitte fixieren, rumlenken, durchatmen, nächste Rampe.


Mittlerweile wird es auch wieder etwas wärmer: Zeitweise durchfahren wir eine wahre Nebelschicht, warm setzt sich Feuchtigkeit auf meiner Brille ab. Meine Schüttelfrostanfälle lassen langsam nach, ich schaue auf die Uhr - es ist weit nach 12 Uhr.


Über Guillestre halten wir kurz an einem Abhang und pinkeln in die Tiefe. Unter uns liegt der Ort, an dem wir die Entscheidung treffen müssen: Fahren wir nach rechts, werden wir in 20 Kilometern auf den Anstieg zum legendären Izoard treffen.

Fahren wir links herum, wird uns die Straße im Tal relativ eben am Izoard vorbeiführen.

Wir schauen uns kurz an: Was machen wir nun?


Fakt ist: Wir haben gute Beine heute! Der Col de Vars hat mir so viel Spaß gemacht, dass ich heute das Gefühl habe, jeden Berg bezwingen zu können. Und wenn er auch Izoard heißt.

Fakt ist aber auch, dass wir, wenn wir den Izoard fahren - von dem wir beide sicher sind, dass wir ihn rocken können - wir noch in jedem Fall den Col du Lautaret vor uns hätten. Denn an dem führt ab Briancon kein Weg vorbei.

"Wenn Du mich fragst, Flow - der Izoard ist mich wichtiger. Ist der größere Name, ist die größere Legende.", argumentiere ich. "Aber - den Lautaret hinterher, bei dieser Kälte, bei diesem Wetter ... ich weiß nicht ..."

Flow pflichtet mir bei. Schweren Herzens. Und so entscheiden wir uns, in Guillestre links zu fahren. Mir blutet fast das Herz, als wir das Hinweisschild zum Izoard passieren.


Durch Guillestre fliegen wir nur so. Aber wer gedacht hätte, dass es ganz ohne Höhenmeter abläuft, der hat sich getäuscht - kaum sind wir aus der Stadt heraus, müssen wir einige kleinere Wellen überklettern.

Eine stark befahrene Straße (logisch, denn das ist die einzige Alternative zum steilen Pass über den Izoard) windet sich durchaus zeitweise knackig. Heftig einsetzender Regen bestätigt uns in unserer Entscheidung, nicht den 2.360 Meter hohen Killer in Angriff genommen zu haben.

Wieder stark zitternd und durchnässt bleibe ich mitten im Anstieg stehen, nehme teilnahmslos die kurz neben mir vorbei donnernden Trucks wie durch einen Schleier wahr, und lutsche schlotternd zwei Gels auf ein mal.


Was dann folgt, ist nicht mehr und nicht weniger, als ein Einzelzeitfahren.

Es sind 35 Kilometer bis Briancon, der höchsten Stadt Europas, und es scheint, als habe Flow eine Rechnung offen. Stark wie eh tritt er in die Pedale und nachdem ich zwei mal erfolglos versuche, ihn mit "Mach mal bitte etwas ruhiger" zu bremsen, lasse ich ihn schließlich fahren.

Ich weiß nicht, was ihn antreibt und ich gebe zu, dass ich sein Verhalten zu diesem Zeitpunkt als wenig kollegial empfinde - denn bei einer Tour geht es nicht darum, was der Stärkste will, sondern was der Schwächste kann. Und in diesem Fall bin ich der Schwächere.

Heute denke ich, dass ihm einfach so kalt war (denn Flow hatte weit weniger lange Klamotten, als ich mit. Und ich war schon trotz langer Bekleidung mehr als unzureichend ausgerüstet) dass er meinte, mit mehr Speed dem Frieren schneller ein Ende bereiten zu können.


Ich treffe ihn kurz vor Briancon wieder. In einer Kurve steht er und wartet. Auf 30 Kilometer hat er an die 5 Minuten Vorsprung herausfahren können. Chapeau - aber irgendwie mit Beigeschmack.

Etwas angesäuert lasse ich mich auf Briancon ein. Bevor wir die wunderschöne Innenstadt mit der Burg erreichen, türmt sich vor uns eine Mauer auf. Es geht mit lockeren 17% Eine knapp 2.500 Meter lange Rampe hinauf. Kopfsteinpflaster. Mitten in der Stadt.

Ich bin viel zu Baff, als dass ich ein Foto machen könnte. Sprachlos kurbeln wir die Wand empor: Wir meistern hier gerade eine dreimal so lange Rampe wie der Waseberg daheim. Unglaublich.


Oben stürmen wir die erste Boulangerie, die wir finden können. Ein sichtlich überforderter Garcon verweist uns in eine unbesuchte, dunkle Ecke des Etablissements, ich ordere wieder einen heißen Tee und beginne, mich zu entkleiden.

Meine Klamotten stinken wie im Alfred Brehm-Haus.
Große Wasserlachen bilden sich unter unserem Tisch.

Wie begossene Pudel hocken wir da, ausgemergelt über unseren dampfenden Tassen.

"Nee", meint Flow kopfschüttelnd, "Izoard wäre nicht drin gewesen!"
Ich nicke.
"Und ... Lautaret ...", fährt er etwas zögernd fort, "und der Lautaret ... bei diesem Scheißregen ... dieser Kälte ...?!" Er zögert. Flow. Beine wie Bäume. Flow zögert.

Zwischen uns ist alles klar: Briancon ist heute Etappen-Ende.
Selbst wenn wir jetzt losfahren - es ist 16 Uhr - erreichen wir den Gipfel des immerhin noch 2.085 Meter hohen Lautarets erst in 30 Kilometern. 10 Kilometer Anfahrt, 20 Kilometer Aufstieg.

Ich rechne knapp kalkuliert (obwohl ich weiß, dass wir so schnell gar nicht mehr können) mit 2 Stunden. Da wären wir bei rund um 18 Uhr auf dem Gipfel.
Weitere 40 Kilometer bis Le Bourg d´Oisans - ich rechne, wieder sehr knapp kalkuliert, mit weiteren 1,5 Stunden. Da wären wir halb Acht am Ziel.

19:30 Uhr am Ziel.
Also in echt vielleicht halb Neun, Neun.

Unmöglich also.


Wir stehen an der starken Mauer der Burg, die diese Stadt im Mittelalter zu einem wichtigen Handelsknotenpunkt gemacht hat und schmieden einen tollkühnen Plan: Wir werden einen Wohnwagen hijacken.

Denn die süße Auskunftsdame erklärt uns, dass ein Bus heute nicht mehr fährt.
Und Züge fahren von hier aus nur gen Süden. Und da wollen wir nicht hin.

Also hijacken wir uns einen Wohnwagen.
Klar, nichts einfacher als das.


Wir verlassen Briancon in Richtung des Col de Lautaret. Kalt ist es geworden und aus dem leichten Pieselregen ist eine dichte, feine, klirrekalte Nebelsuppe geworden, die uns sofort in Mark in Knochen dringt.

Und auch wenn es mir in den Beinen juckt, auch wenn das Hinweisschild, dass der Pass geöffnet sei, noch so verlockend ist: Ich male mir aus, wie es auf 2.000 Metern Höhe wohl aussehen mag. Regen, Beißender, kalter Wind. Nee, das wird ein zweites Desaster. Und sowwas wie gestern, schaffen wir körperlich schon gar nicht mehr.

Abgesehen davon, dass sich die Lust und die Motivation, es dem Berg trotz des Wetters zu zeigen, bei uns beiden in Grenzen.

Ich überlege noch, ob ich mein vorderes Laufrad als Zeichen einer Panne ausbauen sollte, entscheide mich dann aber dafür, einfach ehrlich zu sein.


Flow meint, dass so nie jemand anhalten würde und verzieht sich vor dem Regen in eine nahe gelegene Bushaltestelle. "Wir wechseln uns ab.", sagt er noch.

So stehe ich da und halte den Daumen bei jedem Transporter und jedem Wohnwagen raus.

Es dauert keine 3 Minuten, da hält ein Wohnwagen an. Na bitte!

Ein älterer Herr springt heraus.

"Bonjour, Monsieur", will ich mich bedankend vorstellen. Er runzelt nur die Stirn, läuft nichtssagend an mir vorbei und bückt sich zu meinem Cervélo hinab.
Nimmt den Reifen zwischen Daumen und Zeigefinger und prüft den Luftdruck: "What is going on?", fragt er ruppig, "Anything broken?"

Nein, nicht das Rad, sage ich ihm. Sondern ich.
Hinten geht die Tür auf, es steigen zwei weitere Herren aus. Es sind Belgier.

"Hello - i cannot ride anymore ... too cold and wet ... have to go to Bourg d´Oisans ... do you go there?"
Der Eine nickt freundlich: "No Problem!"
Äh, echt? "Really? Can you take me and my friend?"
"Where´s your friend?", fragen sie.
"FLOWWW!", rufe ich. Da kommt er schon angerannt.

Fast überrumpeln wir die vier Belgier und irgendwie habe ich ein mieses Gefühl dabei, aber jetzt auf gutes Benimm zu achten fällt mir herzlich schwer,


Sie schnallen unsere Räder hinten auf den Träger, wir nehmen hinten bei zweien Platz. Sie sind sehr freundlich, selbst Radfahrer und als ich mich lobend über Phillipe Gilbert, der ja immerhin 4 der 5 Frühlings-Klassiker gewonnen hat, äußere, lässt auch der zweifelnde Beifahrer seine Stirnfalten endlich sich glätten.

Wir bekommen heißen Kaffee und Tee.
Und reden übers Rennradfahren.

Woher wir kämen, fragen Sie.
"Bonette yesterday - Snow, rain!", sagen wir. Ich simuliere zittern.
"Wow!", macht der eine: "They closed the pass yesterday!"
Flow schaut mich an. Ach, was?! Dann waren wir wohl die letzten, die über den Bonette durften?
Wie krass ist das denn bitte?


Ich bekomme heraus, dass die Vier jedes Jahr diese Wohnmobil-Tour machen. Sie fahren zu den krassesten Aufstiegen, einer von denen fährt diese dann, dann geht es weiter. Eine eigenwillige aber sehr sympathische Herrenrunde.

Draußen geht es merklich bergan.
Flow sitzt da und schaut sehnsüchtig hinaus: Für ihn ist das hier Scheitern auf vollster Linie. Ich kann den Schmerz förmlich sehen, der in ihm brennt. Aufgeben. In ein Auto steigen - das ist für ihn das Letzte.

"Ist das richtig?", fragt er mich.
"Na, Du kannst auch gern aussteigen," meine ich, "Und mit nassen Klamotten die Scheiße hier trampeln."

Kaum habe ich das gesagt, verdunkelt sich das Wohnmobil: DRaußen herrscht Weltuntergangsstimmung.


Als wir über den Pass rollen, hüllen dichte Wolken den Wagen ein. Es hat zwar aufgehört zu regnen, aber man kann die Kälte förmlich sehen.
Ganz anders nur wenige Meter hinter dem Pass: Plötzlich reißt der Himmel auf, grandioses Bergpanorama lässt uns den Atem stocken, unter uns sehen wir unendliche Serpentinen sich steil im Hang windend. Saftige Wiesen protzen mit frischem Grün - eitel Sonnenschein. Perfektes Radwetter!

Flow rutscht unruhig auf seinem Hintern hin und her.
"Wollen wir ...?", fragt er.

Wir fahren durch einen Tunnel. Lange. Sehr lange. Als wir wieder im Licht sind, beschaue ich mir das sommerliche Draußen. Nein, perfekt ist das hier.

Dann der nächste Tunnel. Diesmal rauschen 3 Trucks an uns vorbei. Hoppla!

Aus dem Tunnel heraus, lockt wieder feinstes Radwetter.

Nächster Tunnel. Mit Kurven. Nasse Fahrbahn. Trucks. Dichter Verkehr.

"Nee", sage ich, "Das hier ist Selbstmord!" Fast klingt es so, als redeten wir uns raus. Aber mal ehrlich - wir sind bis auf die Knochen nass, frieren und können kaum noch ruhig konzentriert fahren, da wollen wir auf einer steilen Abfahrt - noch dazu in dichtem Verkehr - durch diese Tunnels?

Wahnsinn!


Wir erreichen L´Bourg d´Oisans gegen 18 Uhr. Die Belgier lassen uns beim großen Parkplatz am Rondell raus. Wir verabschieden uns herzlich, wünschen ihnen eine gute Reise und schauen uns um: Grandiose Berge umranden uns, hier als, hier ist L´Alpe d´Huez.

Der legendäre Anstieg. Die legendären 21 Kurven, die Helden machen.
Jene Kurven, die wir morgen fahren werden!

Unser Hotel ist nicht zu übersehen. Es ist ein Radsporthotel.


Im "Oberland" heißt man uns herzlich willkommen. Wir stellen die Rennräder in einen Keller, in dem schon so manche Maschine mit ganz besonderer Geschichte und ganz besonderem Fahrer gestanden haben mag. Der Keller ist schon fast voll - vom klassischen Stahlross bis zur HighTech Carbon-Waffe steht hier alles.

Für die Ankommenden oder Abfahrenden hält das Hotel hier unten eine Schüssel mit Bananen bereit.


Unser Zimmer ist allerdings ein wenig enttäuschend: Es ist eng und schmucklos. Es fehlt eigentlich alles, was man abends nach einer anstrengenden Etappe braucht - Fernseher. Mini-Bar.

Naja. Wir duschen. Wir ziehen uns um und während ich so in meinem Bett hocke überlege ich, wie das so sein muss, wenn man hier als Profi absteigt. Wenn man hier nach 200 Kilometern, Galibier, Izoard und Lautaret in den Knochen ankommt. Wie man hier massiert wird. Oder der Zimmernachbar das Epo rausholt ...


Flow holt kein Epo raus, dafür darf ich sein Duschgel benutzen.

Entreé und Treppenhaus sind gespickt mit Devotionalien, Trikots, Helmen und Schuhen, Widmungen und Postern und jeder Menge Zeitungsausschnitten.
Dieses Haus atmet den Radsport und ich beglückwünsche mich zu meiner Intuition, diese Perle unter all den möglichen Hotels im Ort gewählt zu haben.

Wer weiß? Vielleicht hat in genau meinem Bett Marco Pantani in der Nacht vor seinem legendären Rekordritt nach Alpe d´Huez geschlafen?

Nachdem wir geduscht, uns aufgewärmt und umgezogen haben, gehen wir hinaus, um den Ort zu entdecken. Im Sommer dreht sich hier alles um das Rennrad.


Wir durchstöbern einige sehr gut ausgestattete Rennradläden - so habe ich noch nie einen Shop außerhalb des Internets gesehen, der alle Trikots aller ProTour-Mannschaften der aktuellen und vergangenen Saison gehabt hätte.

Hier gibt es sämtliche Mäntel aller - wirklich aller - relevanten Hersteller. Radcomputer (Flow kauft sich einen), Ersatzteile aller Art, Helme und Zubehör, alles was das Herz begehrt.


Draußen locken ein Dutzend Rennradverleihe mit Sonderpreisen, stolz haben sie die Carbonmaschinen für alle jene aufgereiht, die ohne eigenes Rad anreisen. Oder für verrückte Amis, die schnell mal den Mythos Alpe d´Huez probieren wollen.


Und Amis gibt es hier zur Genüge. Noch viel mehr aber Holländer. Selbst die Kneipen und Restaurants bieten ihre Menüs zweisprachig feil - auf Französisch und auf Niederländisch. Komisch, ich dachte, die Rennradverrücktesten wären die Belgier?


Wir genießen den Abend und schlendern durch das Städtchen. Allenthalben sitzen die Helden der 21 Kurven in den Kaffees, haben ihre Rösser stolz vor den Etablissements angebunden und ergötzen sich an den Blicken der anderen.

Wir hingegen, wir sind begossene Pudel: Unsere achsotoll geplante Königsetappe, der Ritterschlag zum Bergfahrer, Bezwinger von drei der absolut krassesten Pässe - alle über zweitausend und dazu den mächtigen Izoard, wir haben heute nicht viel vorzuweisen.

Nicht viel mehr als einen Col, viel Zittern und Memmen.
Und das Einsteigen in den Besenwagen.

"Das muss besser werden!", sage ich.


Wir beschließen den Tag beim Abendessen. Wie auf Bestellung serviert mir der Garcon zum Dessert Trockenfrüchte. Ich nehme es als Anzahlung. Als Aufstockung wichtiger Mineralien und Spurenelemente. Als Vorraussicht auf das, was morgen kommt.

Morgen kommt Alpe d´Huez.
Morgen kommt die Bühne der Helden. Die 21 Kurven. DIE EINUNDZWANZIG KURVEN.

Wir trinken ein großes Bier und sind ganz besoffen von dem Gedanken, dass morgen - so verkündet es auch der Wetterbericht - der Tag ist, an dem die echte Tour de France-Gluthitze kommt, an dem wir es fühlen werden, das, weswegen wir hier sind. Und endlich, so rede ich mir ein, endlich einmal ein Berg bei Sonne fahren!

Und bitte: Onne Regen.


Die Sonne ist längst noch nicht untergegangen, als wir uns ins Bett legen.
Ich schaue noch einmal aus dem Fenster - hinter unserem Hotel türmt sich mächtig eine stolze Felswand auf, sie suhlt sich direkt im Licht der sinkenden Sonne.

Herrlich. Durchatmen. Grinsen.

Sollte das nun wirklich das Ende dieser verdammten Regentage sein?
Das sollte es wirklich, denn ich habe die Nase voll vom Scheitern. Habe genug vom Argumentesuchen, warum es heute wieder nicht geklappt hat. Warum ich wieder in ein Auto steigen musste. Warum ich wieder gescheitert bin!


Naja, denke ich mir so, als ich einschlafe - ganz so gescheitert bin ich heute ja nicht.
Den Col de Vars habe ich ohne Probleme gemeistert. Immerhin 2.100 Meter hoch! Und das trotz Regen und Kälte. Das gibt dann doch die Sicherheit, dass, wenn ich mich optimal vorbereite, diese Alpenkolossen doch nicht unschlagbar sind.

Etwas zufriedener und voller Vorfreude auf morgen schlafe ich ein - trotzdem ich mich ärgere, warum ich nicht schon am Bonette die langen Klamotten an und mich mit Vaseline präpariert hatte. Aber wie hatte es der Belgier so schön gesagt: "You learn how to manage the Alps."

Jeder holt sich hier blutige Knie.
Oder abgefrorene.